Soziologie des Lebensverlaufs

Hier mal eine kleine Einführung in die Soziologie des Lebenslaufs. Ein kleiner Abriss der Sichtweise und der empirischen Methoden.

Die Soziologie des Lebensverlaufs sieht einzelne Ereignisse im Leben nicht für sich, sondern versucht diese in den Verlauf eines Lebens einzubetten und so besser zu verstehen.

Ein Klassiker der Lebensverlaufstheorie stammt von Martin Kohli. Er sieht eine Dreiteilung des Lebenslauf, die auch institutionalisiert ist. Der Lebenslauf ist gesellschaftliche stark geregelt und nach Kohli wird vom Arbeitsmarkt, dem Staat und dem Individuum geprägt. Der zentrale Punkt dabei ist die Erwerbsarbeit. Der Staat sorgt für soziale Sicherungssysteme und die Bildung. Der Mensch selbst hat natürlich auch einen Einfluss auf seinen Lebenslauf. Er kann diesen prinzipiell auch abweichend von gesellschaftlichen Normen gestalten. Das übergeordnete Ordnungssystem ist die Zeit. Diese prägt den modernen Lebenslauf. Das Bildungssystem prägt die Kindheit und Jugend, der Arbeitsmarkt die mittlere Lebensphase und im dritten Abschnitt spielt das Rentensystem die Hauptrolle (vgl. Sackmann 2007, 19f).

Ergänzend dazu muss gesagt werden, dass diese Dreiteilung eigentlich nur für die westlichen Industrienationen gilt und das auch erst vollständig nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Sackmann 2007, 20).

Kohli geht auch davon aus, dass der Lebenslauf selbst eine Institution ist, an dem sich die Menschen orientieren. Das setzt voraus, das es einen „Normallebenslauf“ gibt. Er hat, laut Kohli die Funktion Lösungen für gesellschaftliche Probleme anzubieten und Unsicherheiten abzubauen. Das Konzept ist umstritten, da es sich nicht lückenlos nachweisen lässt (vgl. Sackmann 2007, 21). Ich würde aber eine gewisse „Normalvorstellung“ für einen Lebenslauf durchaus als gegeben voraussetzen. Ein Indikator ist zum Beispiel die in manchen gegenden verbreitete Tradition des Treppenkehrens für Junggesellen im Alter von 30 Jahren. Das ist zwar beim heutigen Durchschnittsalter bei der ersten Heirat keine Seltenheit mehr und man wird auch nicht Zwangsverheiratet. Ein grober Zeitplan für gewisse Statuspassagen im Lebenslauf scheint mir aber schon vorhanden zu sein. Von einer generellen Regelung bis ins kleinste Detail kann aber keine Rede sein. Als Absolvent des Zweiten Bildungsweges kann ich aber ein Lied davon singen, was passiert, wenn man sein fortgeschrittenes Alter im Zusammenhang mit dem Studentenstatus nennt.

Womit wir zu Altersnormen kämen. Alter kann biologisch als zeitliches Alter eines Individuums gesehen werden und als soziologisches Alter, das durch gesellschaftliche Normen und Kategorien geregelte Erwartungen an die dem jeweiligen biologischen Alter entsprechenden sozialen Rolle bestimmt wird. Wie bei kulturellen Regelungen durchaus üblich, ist die jeweils passende Rolle stehts im Wandel und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich und kann auch innerhalb der Gesellschaft sehr unterschiedlich gesehen werden. Beispielsweise ist der Übergang vom Kind zum Erwachsenen  je nach Gesellschaft sehr unterschiedlich. (vgl. Sackmann 2007, 32f).

Fragen nach dem besten Zeitpunkt zur Heirat, Kindern, oder wann erlauben die Eltern das abendliche Ausgehen ihres Kindes, haben in Umfragen höchst unterschiedliche Ergebnisse geliefert. Daher sind Altersnormen nicht immer klar. Wobei man noch danach unterscheiden muss, wie verbindlich sie sind. Also ob ein Verstoß dagegen sanktioniert wird oder nicht. Die Reihenfolge der Normen wird dagegen recht einheitlich gesehen (vgl. Sackmann 2007, 34ff).

Daneben gibt es noch das Konzept der Generationen und Kohorten. Diese Richtung wurde vor allem von Karl Mannheim geprägt. Dazu habe ich schonmal etwas geschrieben.

Beim Thema Zeit sollte die historische Zeit nicht vergessen werden. Denn Ereignisse in der Zeitgeschichte haben durchaus einen großen Einfluss auf die Lebensverläufe. Kriege, (Natur)Katastrophen oder gesellschaftliche Veränderungen können Lebensläufe verändern. Dabei spricht man von Kohorteneffekten. Darunter fällt zum Beispiel auch die Bildungsexpansion, die mehr Menschen die Möglichkeit für eine bessere Bildung gab.

Es gibt auch noch weitere Theorien, die sich mit Sichtweisen auf den Lebenslauf auseinandersetzen. Alle hier aufzuführen würde zu weit gehen. Eine einheitliche Theorie des Lebensverlaufs gibt es leider nicht. Von daher muss sich jeder selbst die verschiedenen Sichtweisen erarbeiten und für sich entscheiden, was er/sie damit macht.

Bei der empirischen Forschung kommen folglich Erhebungsmethoden zum Einsatz, die den Lebenslauf möglichst lückenlos erfassen. Entweder in Form eines narrativen Interviews oder standardisierten Befragungen, die jedes interessierendes Detail erfassen. Als Beispiel sei die „Deutsche Lebensverlaufsstudie“, die von Karl Ulrich Meyer inzwischen in Yale fortgeführt wird, genannt.

Für die Auswertung kommt vor allem die Ereignisdatenanalyse zum Einsatz, die im Grunde auf der Sterbetafel basiert. Die Methoden gehen dabei von einer einfachen Sterbetafel bis zu einer Regression. Vereinfacht gesagt, werden dabei werden  Statusveränderung innerhalb eines Zeitraumes als Ereignisse gewertet und die „Überlebensrate“ dabei gemessen. Der Vorteil bei dieser Methode ist die Erfassung von von verschiedenen Statusänderung. Eine Querschnittserfassung könnte zum Beispiel nur die Statuspassage Arbeit nach Arbeitslosigkeit erfassen. Es ist aber durchaus möglich, dass dieselbe Person wieder eine Statusänderung von Arbeitslosigkeit zu Arbeit erlebt. Auch die Ungewissheit bei nicht erfassten Ereignissen in der Zukunft wird berücksichtigt. Die so genannte „Rechtszensierung“.

Man kann auch qualitative Auswertungen vornehmen, oder quantitative und Qualitative Methoden kombinieren. Da beide Methoden ihre Vor- und Nachteilte haben, ist letzteres zu empfehlen sofern die Möglichkeiten dazu gegeben sind.

Soweit diese kleine Einführung in die Soziologie des Lebenslaufs. Wer eine ausführlichere Einführung haben möchte, kann das Buch „Lebenslaufanalyse und Biografieforschung – Eine Einführung“ von Reinhold Sackmann lesen. Im dortigen Literaturverzeichnis finden sich weitere Bücher zum Thema. Ebenso sind verschiedene Artikel im Blog zum Thema vorhanden und es werden auch noch neue dazukommen.

Sackmann, Reinhold (2007): Lebenslaufanalyse und Biografieforschung- Eine Einführung. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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8 Antworten zu Soziologie des Lebensverlaufs

  1. Sonntagssoziologe sagt:

    Danke für den Abriss. Ich hatte mit Lebenslaufanalyse bisher nichts zu schaffen, da war das mal ganz interessant. Und noch eine frage an dich als Experten. Wie ist das soziologisch zu beschreiben, dass sich junge Leute im Zug auf die Erde oder die Treppe setzen dürfen, wenn sie keinen Platz mehr haben, für ältere Leute das aber unanständig ist. ist das nur mit verknöcherten Kniegelenken im Alter zu erklären? Ich denke nicht.

  2. Dienstwilligster sagt:

    Ich glaube die Fähigkeit sich ohne größere Probleme wieder vom Boden zu erheben, ist ein wesentlicher Grund für den niedrigen Altersdurchschnitt des „zügigen Bodensatzes“.

    Davon abgesehen werden da wohl internalisierte (situative und altersgebundene) Normen und Konformitätserwartungen über das korrekte Betragen im öffentlichen Raum aktiv, die bei der kontinuierlich (seit Jahrtausenden) verrohenden Jugend nicht mehr greifen.

    Wie kommt es übrigens, dass du sagst, es sei unanständig? Bist du evtl. selber von der „alten Schule“ und nimmst das ganze nur deshalb als unanständig wahr?

  3. Sonntagssoziologe sagt:

    Ich habe das so beobachtet, dass eine ältere Dame im Zug darüber laut reflektierte. Ich nehme an, sie hätte sich also auch gern hingesetzt. Ein weiteres Mal wollte ich mich mit einem Kollegen auf die Zugtreppe setzen (innen, nicht außen) und er meinte, das mache man ab einem gewissen Alter nicht mehr.

  4. Dienstwilligster sagt:

    Solche Äußerungen scheinen mir durchaus mit dem gemachten Erklärungsvorschlag kompatibel zu sein. Ich lese sie als Ausdruck von konventionalisierten, also letztlich willkürlichen, Unvereinbarkeiten zwischen bestimmten Verhaltensweisen und dem eigenen alterskorellierten Status.

  5. Sonntagssoziologe sagt:

    Wie kommt der zustande? Ad hoc: Die Knie knirschen, also tut man das nicht mehr. Dieses verfestigt sich dann im Laufe der Generatuionen: man sieht alte Leute nicht mehr auf der Straße sitzen. Das Bild wird ungewohnt und es konstruiert sich eine „Sowas tut man nicht“ Norm. Eine Norm, die aus der Gewohnheit heraus entsteht, Gewohnheitsrecht, Gewohnheitspflicht, könnte man sagen. Was aber kurios ist, da hier ein Verhalten nicht wegen seiner Schädlichkeit für die Gemeinschaft geächtet wird, sondern wegen seines Nichtvorkommens. Man könnte noch die latente Funktion darin sehen, dass alten Mitbürgern so schneller ein stuhl freigemacht wird, da sie sich ja nicht auf den Boden setzen dürfen.

  6. Dienstwilligster sagt:

    Ich könnte mir vorstellen, dass die Norm des Nicht-Auf-dem-Boden-sitzens sich aus internalisierten Normen bzw. Einstellungen höherer Ordnung herleitet, etwa den unserem Zivilisationsstand entsprechenden (und sehr mächtigen) Gepflegtheits- und Hygienevorstellungen:

    Man setzt sich halt nicht auf dreckige Untergründe, die andere mit Füßen (oder dreckigen Schuhen an denen wer-weiß-was-haftet) treten. Zumal dies auch noch die Kleidung beschmutzen könnte. Hierbei käme dann auch die Alterskorrelation ins Spiel, denn, die von einer Verschmutzung ausgehende Bedrohung ist für Berufstätige problematischer wie für Kinder, Jugendliche oder ggf. auch Studenten. Die letzteren drei Gruppen sind in der Regel auch jünger.

    Eine zweite Erklärung könnte durch antizipierte Reputationseffekte gegeben sein, die auch dann greifen, wenn man es selber eigentlich gar nicht so eng sieht mit den Sitzgepflogenheiten:

    Wenn es die Mehrheitsnorm ist, dass man sich als Erwachsener nicht auf den Boden setzt, dann muss man mit ungünstigen Zuschreibungen seiner Mitmenschen rechnen, sofern man es doch tut. Da die meisten Menschen (nennen wir sie mal außenorientierte Selbstüberwacher) ihre Reputation und ihr Selbstbild schützen wollen, werden sie sich also nicht setzen.

    Zu guter letzt die Frage, wo kommen diese Vorstellungen her: Mikrosoziologisch gesehen werden die wohl vor allem im Elternhaus ansozialisiert und verinnerlicht. Makrosoziologisch sind das vermutlich Artefakte des Zivilisationsprozesses á la Elias.

    Oder so…

  7. Sonntagssoziologe sagt:

    Sehr schön soziologisiert 🙂

    Wie man hier sieht, wird Sitzen im Dreck als Altersunwürdig empfunden: http://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=4563

    Ich glaube, es ist im Zug (bei rüstigen Rentnern) ähnlich der Mentalität von Hartz4 Verweigerern. Man könnte, aber man ist zu stolz. Falls das so ist, bliebe die Frage, wieso junge Menschen diesen Stolz nicht haben. Hier wäre eine vergleichende Studie über junge und alte Sozialhilfeempfänger angebracht.

  8. Dienstwilligster sagt:

    Womit dann eines der letzten großen Rätsel der Gesellschaft gelöst wäre 😉

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