Berger / Luckmann: Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit

Berger und Luckmann beschreiben, wie die Integration eines Individuums in die Gesellschaft, ihrer Theorie nach abläuft. Dabei wird die Gesellschaft und deren Wirklichkeit internalisiert. Sie sehen Gesellschaft als „dialektischen Prozess“, der aus den drei Komponenten Externalisierung, Objektivation und Internalisierung besteht (Berger / Luckmann, 139). Die Internalisierung findet in der primären Sozialisation statt. Darin wird der Mensch in die Gesellschaft integriert, in dem er die Regeln lernt. Dies geschieht, in Anlehnung an Mead, durch signifikante Andere (vgl. Berger / Luckmann, 141). Die primäre Sozialisation endet mit der erfolgreichen Internalisierung aller Regeln und der Vorstellung eines generalisierten Anderen, also der Verallgemeinerung der Regeln, die das Individuum durch die signifikanten Anderen vermittelt bekommen hat.

Berger und Luckmann sehen damit Sozialisation nicht als beendet an. Daher führen sie den Begriff der sekundären Sozialisation ein. Darin wird das Wissen von institutionalisierten Teilbereichen der Gesellschaft internalisiert. Der Ursprung wird in der Arbeitsteilung der Gesellschaft gesehen, der für verschiedene Rollen verschiedenes Wissen voraussetzt, das in der sekundären Sozialisation vermittelt wird (vgl. Berger / Luckmann, 148f). Hier muss im Gegensatz zur primären Sozialisation eine Legitimation vorhanden sein, beispielsweise durch die Sprache oder durch theoretische Stützkonstruktionen (vgl. Berger / Luckmann, 149ff).

Um die in der primären und sekundären Sozialisation internalisierten Wirklichkeiten abzusichern, gibt es die Mechanismen der Routine und der Krisenbewältigung, sowie durch die Interaktion mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Diese werden „sonstige Andere“ genannt. (vgl. Berger / Luckmann, 159ff).

Hartmut M. Griese wirft dem Konzept von Berger und Luckmann vor, dass sein zentraler Begriff der Internalisierung zu unscharf sei. In der primären Sozialisation ist diese an Sprache und Identifikation mit den signifikanten Anderen geknüpft, während dies in der sekundären Sozialisation nicht mehr notwendig ist. Daher schlägt er vor, diesen Begriff im Zusammenhang mit der sekundären Sozialisation nicht mehr zu gebrauchen (vgl. Griese, 150f). Allerdings schlägt er keinen Alternativbegriff vor.

Ein weiterer Kritikpunkt von Griese ist die Sozialisation als solche und die erfolgreiche Sozialisation im speziellen, die bei Berger und Luckmann immer nahezu perfekt ist und die signifikanten Anderen, nach Meinung von Griese, zu undifferenziert gesehen werden und nicht berücksichtigt wird, dass auch deren Sozialisation fehlerhaft sein könnte, da sie ja auch Mitglieder der Gesellschaft und somit von ihr beeinflusst sind, und somit inkonsistente Welten oder Ideologien vermittelt werden könnten. Zudem werden die Widersprüche, die unter Umständen zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit entstehen nicht auf die Gesellschaft und deren Strukturen, sondern nur auf die Person als solches zurückgeführt (vgl. Griese, 152).

Gerade gesellschaftliche Veränderung und Abweichung ist mit diesem Konzept nur schwer bis gar nicht zu erklären. Zwar wird auf eine komplette Änderung eines Weltbildes eingegangen, was Berger und Luckmann als „Verwandlung“ (Berger / Luckmann, 170) bezeichnen, doch ist dies eher ein Ausnahmefall und wird auch wieder von außen gesteuert. Das ist meiner Einschätzung nach auch eine der Lücken im Konzept. Die Menschen scheinen den signifikanten Anderen schutzlos ausgeliefert zu sein. Veränderungen gehen also immer nur von den signifikanten Anderen aus. Je nach dem was sie ihren Kindern vermitteln. Das erscheint mir nicht sehr realitätsnah. Zwar mag ein kleines Kind noch alles glauben, was ihnen ihre Eltern oder andere erzählen, doch spätestens mit der Pupertät hört dies auf. Jede Einwirkung von Außen trifft ja auf ein vorhandenes Weltbild und auf vorhandenes Wissen. In dieser Phase kann es auch zu einem eigenen Gegenentwurf zur Gesellschaft kommen. Eine Rückkopplung zwischen Lehrer und Schüler, wie es Mannheim in seinem Generationenkonzept beschrieben hat findet hier nicht statt. Für die Erklärung von Erziehungsproblemen ist die Theorie also denkbar ungeeignet. Darauf weist auch Griese hin (vgl.Griese 152). Dabei sollte eine Sozialisationstheorie gerade dies mit einbeziehen. So lässt sich nur der generelle Vorgang der (erfolgreichen) Integration eines Individuums in die Gesellschaft beschreiben.

Welche Elemente müssten also noch erweitert oder hinzugefügt werden, um mit der Theorie auch sozialen Wandel und abweichendes beschreiben zu können? Zum Einen müsste man Abweichendes Verhalten bzw. die Krise nicht nur als einen seltenen Extremfall beschreiben. Krisen in verschiedener Stärke kommen dauernd vor. Das führt zwar nicht direkt jedes mal zur einer kompletten Änderung des eigenen Welt- und Selbstbildes, doch eine stetige kleine Verhaltensänderung vieler Menschen haben auf die Dauer schon einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Hier spielen auch die Massenmedien eine Rolle, die Themen aus der Gesellschaft aufgreifen und so eine öffentliche Diskussion über die „Wirklichkeit“ der Gesellschaft ermöglichen. Auch Griese weist auf diesen Einfluss hin. Er meint, dass die Schule, der Beruf und die Massenmedien einen entscheidenden Einfluss auf die Internalisierung von Ideologien und Verhaltensregeln ausüben (vgl. Griese, 153). Dazu müsste man noch sozialstaatliche Institutionen addieren. Im Falle einer hohen Arbeitslosigkeit haben soziale Sicherungsstrukturen einen Einfluss auf große Teile der Bevölkerung. Neben den anderen Individuen der Gesellschaft müssten also noch Institutionen zur Erklärung von Sozialisation hinzugezogen werden.

Doch das allein erklärt noch keinen Wandel. Entscheidend wäre eine Erklärung was passiert, wenn Sozialisation fehlschlägt, sowie die Aufgabe der deterministischen Internalisierung. Bei Berger und Luckmann läuft alles auf eine Bestätigung eines gesellschaftlichen Konsens über die Beschaffenheit der Welt hinaus. Es könnte aber auch sein, dass die Signale von Außen als eine Bestätigung einer zu diesem Konsens zuwiderlaufenden Weltbildes dienen. Dies setzt aber selbstständig denkende Individuen voraus, die nicht alles vorbehaltlos übernehmen was in ihr von der Gesellschaft geprägtes und an ihren Bedürfnissen orientiertes Weltbild passt. Der Austausch von Ideen zwischen Individuum und Gesellschaft müsste mehr betont werden.

Zumindest um die angeführten Punkte müsste die Theorie erweitert werden um sozialen Wandel zumindest ansatzweise zu erklären. In der unveränderten Fassung ist sie zu eng gefasst und blendet wichtige Einflussfaktoren, sowie die Eigenständigkeit der Individuen aus. Somit lässt sich abweichendes Verhalten und sozialer Wandel nicht erklären bzw. beschreiben.


Literatur

Berger, P. / Luckmann Th.: The Social Construction of Reality. Doubleday, New York, 1966. Dt.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Fischer, Frankfurt, 1969.
Griese, H.: Soziologische Anthropologie und Sozialisationstheorien. Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 1976.

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